Stellen Sie sich einmal folgende Szene vor:
Ein Mann, Teilnehmer eines Meetings, sitzt mit Beobachtermiene in der Runde, gibt wenig von sich preis, wirkt ein wenig verbissen, aufgesetztes und verschlossenes Pokerface. Innerlich ist der Mann pausenlos damit beschäftigt, sich mit den anderen Teilnehmern zu vergleichen. Selbst in Situationen, welche nicht mit ihm in Zusammenhang stehen, ist er innerlich ständig bemüht, sich als etwas Wertvolles und Respektables darzustellen. Unablässig befindet er sich in einem Wettbewerbsmodus, sucht nach einem Gefühl innerer Ruhe und Befriedigung und findet es doch nicht. Sein Konzept und Handlungsmuster dabei: Jegliche Aussagen, Haltungen und Einstellungen anderer Teilnehmer bewerten, abwerten, verurteilen – in endloser Schleife.
Eine Phantasie? Oder kennen Sie vielleicht so jemanden, waren selbst schon in solchen Szenarien unterwegs, als Betroffener oder gar als Akteur?
Wenn Sie Betroffener sind oder waren: Wie fühlt sich das für Sie an, immer unter einem ab- und bewertenden Blick zu stehen? Was macht dieser Blick mit Ihnen und wie reagieren Sie innerlich oder äußerlich darauf?
Und wenn Sie Akteur sind: Wie ist das für Sie, wenn Sie ständig mit diesem wertendem Blick den Tag vollbringen? Sind Sie am Abend mit dem Sack voller Urteile auf Ihrem Rücken zufrieden? Stellt sich Zu-frieden-heit ein oder ruft die innere Stimme nach mehr?
Ich will im heutigen Beitrag bei dem Akteur, dem Mann mit dem starken inneren Kritiker bleiben. Denn die beschriebene Szene ist keinesfalls fiktiv. Ich habe Menschen mit solch ausgeprägter und damit neurotischer, weil zwanghafter, Wettbewerbs- und Vergleichsorientierung schon häufig erlebt. Im Führungskontext genauso wie auf allen anderen Ebenen. Diese Menschen sind voll mit innerlich gesetzten sehr hohen Ansprüchen und Standards, denen sie selbst folgen (müssen) und die sie an andere implizit stellen. Denn das Leben wird als permanenter Wettkampf, als permanenter Vergleich erlebt und ein eigenes Versagen ist in diesem Lebenskonzept nicht vorgesehen. Also wird ggf. eher das Gegenüber abgewertet, um sich selbst aufzuwerten und den Respekt zu erhalten, den dieser Mensch seinem Verstand nach zum Überleben braucht, als das Andere als gleichwertig neben sich stehen lassen zu können.
Besonders gut erlebbar wird dies in dem Dokumentarfilm „The Work“ von Jairus McNeary, aus dem die beschriebene Szene stammt. Im Verlauf dieses Filmes wird klar – und es handelt sich um eine reale Situation mit realen Figuren – dieser Mensch kämpft ständig um seine innere Existenzberechtigung, er kämpft ständig gegen diese innere Stimme in seinem Kopf, welche ihm sagt, dass er nicht gut genug ist, dass er besser sein muss, dass er sich ständig beweisen, ständig „performen“ muss.
Klingt das rational, logisch? Ist wie in diesem Beispiel zwanghaftes Wettbewerbsstreben ein logisches und lebensnotwendiges Prinzip? Mitnichten, es ist ein neurotisches Konzept. Es ist eine sogenannte noogene Neurose, d.h. eine aus dem eigenen Denken entspringende Neurose. Sie entsteht aus emotional gekoppelten Ereignissen in der Biografie, welche sich als daraus abgeleitete und als überlebensnotwendig empfundene, persönliche Handlungs- und Denkmuster in jeweiligen neuronalen Netz, dem Gehirn manifestiert haben.
Ist dem Mann im beschriebenen Beispiel sein Muster bewusst? Nein; in der Regel laufen solche inneren Programme oft jahrelang unbewusst. Vielleicht hinterfragt man sich, wenn man mit seinem Muster an Grenzen stößt. Aber manche Menschen durchleben durchaus ihr ganzes Leben auch ohne sich selbst oder ihre Muster jemals auf einen Prüfstand gestellt zu haben. Dies geschieht auch oft dann besonders leicht, wenn das eigene Muster gesellschaftliche Resonanz und Bejahung erfährt, z. B. auch als Erfolgsmuster propagiert wird. Prof. Peter Kruse sagte dazu einmal auf einem Vortrag „Wundern Sie sich also nicht, dass die Person sich ihre Gedanken auch glaubt. In ihrem eigenen Gehirn liegt sie mit ihrem Glauben ja auch immer richtig!“
Wichtig zu wissen finde ich, dass jedem neurotischen Handlungsmuster eine kollektive Absicht zugrunde liegt, nämlich den bedürftigen und verletzlichen Kern des Individuums zu schützen, das Überleben und seine Existenz zu sichern. Dass heißt, dass wir auf der Handlungsebene zwar durchaus unterschiedlichste Handlungsmuster und Denkstrukturen vorfinden, wir aber im tiefsten Inneren immer aus dem uns als Menschen gemeinsamen Wunsch nach wertiger und bejahter Existenz heraus agieren. Neueste epigenetische Forschungen belegen im Übrigen auch, was im systemischen Umfeld schon lange als wahrscheinlich galt, nämlich dass es auch transgenerationale Musterübertragungen gibt, d. h. neurotische Muster sich nicht zwingend immer aus der unmittelbaren eigenen Biografie erschließen müssen.
Noogene Neurosen, wie z.B. der beschriebene ständige Vergleichsdruck, sind nicht zwangsläufig pathogen, d.h. lebensfeindlich oder destruktiv. Daher werden sie ja auch nicht zwingend reflektiert oder bewusst z. B. im Rahmen eines therapeutisch fundierten Coachings oder einer therapeutischen Begleitung bearbeitet. In nichttherapeutischen und insbesondere in beruflichen Kontexten sprechen wir in diesem Zusammenhang auch oft von Motivationsstrukturen. Und so treffen wir diese Neurosen auch auf allen Ebenen der Gesellschaft an. Schwierig wird es meist nur da, wo persönliche noogene Neurosen, z. B. von Führungskräften, zum Dogma erhoben oder als „objektive Wirklichkeit“ zur ultimativen Richtschnur und Handlungsmaxime gemeinsamen Handelns erklärt werden.
Glaube also nicht alles, was Du denkst!
Wo immer Sie mit Ihrer eigenen Wirklichkeit und Ihrem eigenen Weltbild an eine Grenze oder auf einen Widerstand stoßen, schauen Sie genauer hin. Es könnte sich durchaus lohnen.
Hintergrundinformation
Der Dokumentarfilm „The Work“ von Jairus McLeary (2017) wurde, soweit mir bekannt, in deutschen Kinos bisher nicht gezeigt. Auf DVD gibt es ihn nur in der englischen Originalfassung. Doch wer sich einem mitunter gemurmelten und umgangssprachlichen Englisch öffnen kann, der kommt mit dem Original ganz gut zurecht.
(UK Import)
Worum geht es?
Ein Kamerateam – alle selbst bereits Teilnehmende dieser Council-Arbeit gewesen – begleitet ein viertägiges gruppentherapeutisches Setting mit inhaftierten Schwerstverbrechern und „ehrenwerten“ Gesellschaftsmitgliedern im Folsom Hochsicherheitsgefängnis in Kalifornien. Das Setting folgt der Form des Councils, jener Kommunikationsform, welche auch in organisationalen Kontexten eingesetzt wird, um essentiell und tiefgehend zu arbeiten. In seiner tradierten Struktur stellt das Council eine praktische Umsetzung der generativen Kommunikationsform dar, welche in der Theorie von Prof. Claus Otto Scharmer beschrieben und für zukunftsfähige Organisationen als notwendig erachtet wird.
Das Council wird in diesem speziellen Setting um die unmittelbare und konfrontative Begegnung zwischen Menschen ergänzt, welche bar jeder Fassade die unmittelbare Wirklichkeit hinter den vielfältigen Schattierungen von Rollen und Images greifbar werden lässt. Und das spannendste ist, dass diese Wirklichkeit, also das was wirkt, für ausnahmslos alle Beteiligten dasselbe ist, für die Inhaftierten wie auch für die „ehrenwerten“ Protagonisten.
Der Film ist brennend und bewegend (UK Freigabe ab 15) und sei hier ausdrücklich empfohlen. (https://theworkmovie.com/)