Kein Tag vergeht ohne neue Beiträge und Debatten zu den bestimmenden Trends unserer Arbeitswelt: Digitalisierung, Agilität, New Work – und vor allem der Diskurs hierüber – sind für alle, die mit offenen Augen durch die Welt gehen, allgegenwärtig. Zwischen den unterschiedlichen Perspektiven, Erkenntnissen und Befürchtungen springt für mich als HR Beraterin ein zentraler Begriff hervor, der alles andere als neu, aber von großer Aktualität ist: Lernen. In einer Welt immer schnellerer, radikaler Veränderungen gehört es zu den Grundvoraussetzungen eines erfolgreichen Arbeitslebens, sich fortlaufend relevantes Wissen anzueignen und das eigene Verhalten zu adaptieren. Und auch für Unternehmen sind gelingende Lernprozesse Grundlage ihres Erfolges und Fortbestehens.
Eine Hoch-Zeit also für alle, die ihre Profession im internen oder externen Umfeld betrieblicher Personalentwicklung gefunden haben? Nun, hier sind die Meinungen und Empfehlungen unterschiedlich. Fest steht, der Blickwinkel darauf, wie Lernen in Unternehmen stattfindet und gestaltet werden kann, hat sich erweitert. Zur Verdeutlichung möchte auch ich das viel zitierte 70-20-10-Modell bemühen. Dieses geht davon aus, dass
- 70% des Lernens durch Erfahrung und tägliche Praxis am Arbeitsplatz erfolgen (experimentelles Lernen)
- 20% des Lernens durch den Austausch mit anderen geschehen (soziales Lernen)
- 10% des Lernens durch traditionelle Weiterbildung wie Seminare oder professionelle E-Learnings unterstützt werden (formelles Lernen).
Die Palette der möglichen Lernsettings hat sich dabei, nicht zuletzt durch neue Technologien und Arbeitsweisen, stark ausdifferenziert. Experimentelles Lernen findet ad hoc am Arbeitsplatz statt, im Moment der Problemlösung, und umfasst so Lernsituationen, die durch die Arbeitsaufgabe selbst entstehen (z. B. Übernahme herausfordernder Aufgabenstellungen, Projekt-Assignments, Job Rotation, Übernahme zusätzlicher Verantwortung, Ausprobieren neuer Arbeitsmethoden) wie auch Tools und Systeme, die Mitarbeiter bei der Ausübung ihrer Arbeitsaufgaben direkt unterstützen (Suchmaschinen, Blogs, Fachartikel, Wikis, Apps, Lernportale, MOOCs, Podcasts, Videos, Infographiken, Augmented oder Virtual Reality Applikationen etc.). Soziales Lernen basiert auf Beziehungen und Interaktion. Lernen findet statt durch den Austausch in Communities of Practice, den Besuch von Konferenzen, Foren, sozialer Netzwerke, die Teilnahme an Meetings oder Workshops sowie durch Feedback und Erfahrungsaustausch in Formaten wie Peer-to-Peer Coaching oder Mentoring.
Auch wenn die hier genannten Begriffe des experimentellen und sozialen Lernens im Arbeitsalltag nicht immer trennscharf sind, verdeutlichen sie einige zentrale Tendenzen: Lernen ist längst nicht nur das, was durch PE-Abteilungen geplant in Seminarräumen stattfindet. Stattdessen ist Lernen schwerpunktmäßig eine selbstgesteuerte Aktivität von Mitarbeitern, die sich an (akutem) Bedarf und Relevanz von Inhalten orientiert. Darüber hinaus wird Lernen zum kollaborativen und demokratischen Prozess: Lerninhalte entstehen vermehrt durch Lerner selbst (user generated content); Bewertungs- und Empfehlungsmöglichkeiten auf modernen Lernportalen, Kommentarfunktionen und Diskussionsmöglichkeiten in Foren etc. ermöglichen eine stärkere Beteiligung der Lerner.
So weit, so gut. Bedeutet dies nun den Abschied von formaler Personalentwicklung? Ja und nein. Kontext- und alternativloses Seminarlernen ist sicher nicht der Weg in die Zukunft. Um echten Mehrwert zu schaffen, braucht es intelligente Blended Learning Angebote und die gezielte Unterstützung der oben beschriebenen Lernformate durch professionelle Lernbegleiter. Das ist aber noch längst nicht alles. Damit selbstgesteuertes Lernen überhaupt gelingen kann, gilt es zunächst, sich zwei großen Herausforderungen zu stellen: auf der individuellen Ebene dem Thema der Learnability und auf der Ebene der Organisationen dem der Lernkultur.
Schauen wir uns zunächst die individuelle Ebene an. Die VUCA-Welt stellt hohe Anforderungen an den Einzelnen – der Umgang mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit erfordert spezielle Kompetenzen und ein entsprechendes Mindset. Learnability ist Teil dieses Spektrums und wird hier verstanden als Fähigkeit und Bereitschaft zu selbstorganisiertem und kollaborativem Lernen. Selbstreflexiv erkennen, welche Lernbedarfe hinsichtlich meines Wissens und Verhaltens ich habe, passende Lernsettings finden und Lernformate durch Teilen von Wissen und Erfahrung gestalten sowie durch Feedback bereichern – nicht wenige stoßen hier an ihre inneren Grenzen. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig – zu wenig Orientierung, ungeübte soziale Kompetenzen, limitierende Glaubenssätze oder unklare innere Motivstrukturen sind hier nur einige Erklärungsansätze. Fest steht, neben den oben genannten Formaten braucht es Angebote, die Selbstreflexion unterstützen und Raum geben, tiefe, nicht immer einfache, Lernprozesse anzustoßen. Auch hier mögen sich geeignete 70-20-Lernformate finden, wenn die Organisation insgesamt eine entsprechende Kultur etabliert hat, doch auch klassische Trainings- und vor allem Coaching-Formate haben in diesem Kontext besondere Wirksamkeit.
Die Ebene der Kultur ist für das Thema Lernen neben der individuellen Learnability insgesamt von besonderer Bedeutung: Hat Lernen wirklich seinen Platz im Unternehmen? Wie sind die Rahmenbedingungen (z. B. technisch, zeitlich, räumlich)? Wie geübt sind wir in selbstorganisierten Formaten, wie gehen wir mit Feedback um? Gibt es die viel beschworene Fehlerkultur? Welchen Auftrag und welches Selbstverständnis haben Führungskräfte in Hinblick auf Lernprozesse? Beteiligt sich das Top Management am Wissens- und Erfahrungsaustausch? Werden Beiträge zu Lernformaten honoriert? Die Fragen ließen sich noch weiter fortsetzen und vertiefen – deutlich wird, dass es nicht damit getan ist, eine moderne Lernplattform einzuführen oder Communities of Practice zu verordnen. Auch auf organisationaler Ebene braucht es ein entsprechendes Mindset, geteilte Methoden und Regeln sowie Rahmenbedingungen, die individuelle und soziale Lernprozesse unterstützen und ihnen eine gemeinsame Richtung geben – also eine Lernkultur. Dies passiert nicht mal eben so, denn Kulturveränderung ist ein komplexer Organisationsentwicklungsprozess. Doch er ist möglich. Und er ist nötig, damit die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft erfolgreich bewältigt werden und Innovation entstehen kann.
Was heißt das nun für die Profession Personalentwicklung? Nun, auch hier ist Learnability gefragt: Neue Methoden und Technologien selber ausprobieren und integrieren, Kontrolle über Lernprozesse abgeben, Mitarbeiter aktivieren, Austauschforen initiieren, Kultur mit gestalten und sich im Sinne des Kundennutzens ständig selber neu definieren – es bleibt spannend!