Ja, nun auch ich. Wie soll das auch gerade gehen, einen Artikel zu schreiben, ohne Corona oder das Thema Krise zu erwähnen? Viel Wertvolles und Hoffnung Spendendes ist in den vergangenen Tagen entstanden und veröffentlicht worden – über das Arbeiten unter neuen Bedingungen, die Alltagsgestaltung in Zeiten der Kontaktsperre oder eine mögliche neue Ära nach der Krise. Doch, und so ist das in schwierigen Zeiten, den öffentlichen Diskurs – und vermutlich auch viele private Gespräche – prägen derzeit schlechte Nachrichten und eine offensichtliche Unsicherheit darüber, wie der kollektive Alltag nächste Woche oder in zwei Monaten aussieht.
Was kann uns jetzt helfen, uns nicht völlig in Gedankenspiralen aus Sorgen, Frust und Zukunftsangst zu verlieren? Wie gelingt es uns, Kraft zu schöpfen und, auch in der aktuellen Situation, viele gute Momente zu erleben? Ich möchte Ihnen heute eine Perspektive ans Herz legen, die mir persönlich dabei hilft, mich immer wieder im Hier und Jetzt zu erden: die (innere und äußere) Haltung der achtsamen Präsenz, die im Rahmen von Achtsamkeit und Meditation einen besonderen Stellenwert hat.
Präsenz bedeutet dabei, bewusst im Hier und Jetzt zu sein und den Moment, in dem wir uns gerade befinden, mit allen Sinnen wahrzunehmen. Wenn wir präsent sind, sind wir aufmerksam für uns selbst – wir nehmen unseren Körper, unsere Gedanken und Gefühle wahr und werden uns unserer sonst automatisch ablaufenden Reaktionsmuster bewusster. Zugleich sind wir aufmerksam für unsere Umgebung und für unser Gegenüber. Wir sehen, hören, spüren, was gerade um uns ist, anstatt uns von Bildern, Stimmen und Gedanken aus Vergangenheit oder Zukunft leiten zu lassen. Gerade besonders wichtig: wir sind so besser in der Lage, Schönes wahrzunehmen – und davon gibt es wahrlich auch in Krisenzeiten für die meisten von uns noch jede Menge: ein leckeres Essen, die erwachende Natur, Sonnenstrahlen, ein Musikstück, das uns berührt, ein Gespräch mit einem lieben Menschen. Wenn wir präsent sind, können wir uns auf diese Erfahrung voll und ganz einlassen, ohne dass diese von anderen Gedanken und Gefühlen überdeckt wird.
„Wenn Sie zur Präsenz gelangen (…) dann wissen Sie es augenblicklich, dann fühlen Sie sich sofort zu Hause. Und da sie zu Hause sind, können Sie sich entspannen, können Sie loslassen, können Sie in Ihrem Sein ruhen, in Gewahrsein, in der Präsenz selbst, in Ihrer eigenen guten Gesellschaft.“ (Jon Kabat-Zinn)
Besonders gut gelingt eine solche Präsenz in diesen Tagen meiner Tochter beim Spielen im Garten (und das zu beobachten, habe ich ja nun reichlich Gelegenheit): ein völliges im Moment Sein und eine damit einhergehende Zufriedenheit mit sich und der Welt, ohne Gedanken an Corona, das Morgen oder die ansonsten schwer vermissten Freunde.
Falls Sie nun denken: „Als Kind konnte ich das auch noch, aber jetzt…“ – wir können diese Haltung ganz bewusst trainieren. Dabei helfen beispielsweise die nachfolgend beschriebenen Übungen aus der Achtsamkeits-Praxis. Bei allen Übungen gilt: es geht darum, genau zu beobachten und wahrzunehmen – nicht darum, in diesem Moment etwas zu verändern. Auch, wenn Ihre Gedanken abschweifen oder Sie die Übung seltsam finden – bleiben Sie freundlich zu sich und neugierig. Es geht nicht darum, die Übung besonders gut zu machen. Es geht darum, die Übung überhaupt zu machen.
Orientierungs-Übung
Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit, ganz bewusst wahrzunehmen, wo Sie gerade sind. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihre Umgebung zum ersten Mal sehen, hören, riechen, spüren. Was fällt Ihnen auf? Entdecken Sie etwas Neues? Wohin wandern Ihre Augen immer wieder?
Beobachten Sie auch, wie Sie sich nach der Übung fühlen. Gibt es Veränderungen in Ihrem Körper?
Körper-Wahrnehmung
Schauen Sie auf Ihre Körperhaltung. Wie sitzen Sie in diesem Moment? Wo können Sie Berührungen mit dem Boden oder der Sitzunterlage spüren? Wandern Sie durch Ihren Körper – wo können Sie Anspannungen entdecken? Wo Wärme oder Kälte? Und welche Teile Ihres Körpers sind locker und entspannt?
Nehmen Sie sich Zeit, genau hinzuspüren.
Atem-Übung
Unser Atem ist einer der stärksten Anker, uns jederzeit ins Hier und Jetzt zu bringen.
Nehmen Sie drei tiefe Atemzüge. Atmen Sie tief durch die Nase ein und tief durch den Mund wieder aus. Danach lassen Sie Ihren Atem in seinem eigenen Rhythmus ganz natürlich fließen. Beobachten Sie, wo Sie Ihren Atem am stärksten spüren. Vielleicht ist es der Luftzug an der Nasenspitze, den Sie am stärksten bemerken. Vielleicht das Heben und Senken Ihrer Brust. Oder die Bewegung Ihrer Bauchdecke. Beobachten Sie Ihren Atem eine Weile. Zum Abschluss nehmen Sie noch einmal drei tiefe Atemzüge.
Vielleicht spüren Sie mithilfe der Übungen unmittelbar, wie Sie mehr bei sich und im Hier und Jetzt ankommen, möglicherweise braucht es aber auch ein bisschen Übung und Geduld. Doch auch dann, Sie ahnen es schon, ist achtsame Präsenz kein Zaubermittel, das plötzlich dafür sorgt, dass alles nur noch schön ist. Vielmehr bedeutet diese Haltung auch, dass wir uns unangenehmer Gedanken und Gefühle absichtlich gewahr werden. Und macht es dann die gegenwärtige Lage nicht noch weniger erträglich, wenn ich mich mit meinen Ängsten, meiner Traurigkeit und meiner Frustration auch noch auseinandersetze? Nun, es geht darum, das, was ohnehin ist, wahrzunehmen, wertfrei zu betrachten und es so sein zu lassen, wie es gerade ist. Gerade für handlungsorientierte Menschen mag dieser letzte Punkt irritierend sein: „Ich will etwas tun, damit das unangenehme Gefühl, der quälende Gedanke weg geht.“ Da, wo die Dinge in unserem Einflussbereich liegen, ist dies klug. Nur – vieles von dem, was die meisten von uns gerade beschäftigt, liegt eindeutig außerhalb unserer Beeinflussung. Und da kann es manchmal mehr helfen, inne zu halten, ehrlich mit uns selbst zu sein und zu benennen, was in uns vorgeht. Dadurch verschwinden Zukunftsängste, Einsamkeit, Sorge um andere und ähnliche Gefühle nicht einfach. Doch mit etwas Übung stellen wir vielleicht fest, dass ein gewisser Abstand zwischen uns und diese Gefühle tritt. Und möglicherweise merken wir auch, dass diese Gefühle und Gedanken nicht permanent unsere Energie anzapfen und es uns so immer wieder gelingt, für uns und andere wirklich im Hier und Jetzt zu sein.
Gelingt das immer? Also, mir noch lange nicht (aber immer öfter…). Achtsamkeit üben, bedeutet einen langen Atem zu haben und zugleich Freundlichkeit und Geduld sich selbst gegenüber einzunehmen.
Und doch: ich meine, es lohnt sich. In schlechten wie in guten Zeiten hilft achtsame Präsenz, Lebensqualität zu erhöhen und die Verbindung zu sich selbst und anderen zu stärken. Für alle, die ihre Zeit gerade nutzen möchten, sich mit diesem Thema intensiver zu beschäftigen, empfehle ich daher das Standard-Werk „Gesund durch Meditation“ von Jon Kabat-Zinn, das viel Grundlagen-Wissen und gleichzeitig ein strukturiertes Übungs-Programm zum Einstieg in die Achtsamkeit enthält.