Manchmal kommen Dinge zusammen, die sind eigentlich paradox. Das heißt die Dinge sind in sich widersprüchlich und treffen entgegen dem allgemeinen Erwarten zu. Vera F. Birkenbihl, die große und von mir sehr geschätzte deutsche Managementtrainerin, war für mich so ein lebendes Paradox. Frau Birkenbihl, gest. 2011, litt an einer leichten Form von Autismus, dem Asperger Syndrom. Die besonderen Merkmale dieses Syndroms sind lt. Wikipedia einerseits Schwächen in der sozialen Interaktion sowie Kommunikation und andererseits stereotypes Verhalten mit eingeschränkten Interessen. Gelegentlich, so die Darstellung, fällt das Asperger-Syndrom mit einer Hoch- oder Inselbegabung zusammen. Diese Koinzidenz muss bei Vera F. Birkenbihl der Fall gewesen sein. Sie vermochte aus ihrem vermeintlichen Defizit nicht nur eine Stärke, sondern sogar ein wirkliches und außergewöhnliches Alleinstellungsmerkmal zu entwickeln. Ich habe in meinem bisherigen Leben keine Beraterin/Berater oder Trainerin/Trainer mit breitbandigerem und tieferem Wissen kennengelernt, welche auch die Fähigkeit besaßen, bereichsübergreifende Zusammenhänge in einer umfassenden Tiefe zu erfassen.
Kommunikation und Führungsfähigkeit waren ihre zentrale Themen und sie konnte – trotzdem dass sie in der unmittelbaren sozialen Interaktion, wie ich von Menschen hörte, die mit ihr unmittelbar zusammengearbeitet haben, nicht einfach war – Themen hervorragend didaktisch aufbereiten und vor großem Publikum sehr unterhaltsam und lehrreich dozieren. Für mich ist Vera F. Birkenbihl auch heute noch ein Leitstern, um in meiner eigenen Arbeit nicht vorschnelle Lösungen und „Pillen“ anzubieten, sondern im Bemühen zu verharren, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Aus diesem Grunde möchte ich mit Ihnen auch im heutigen Blogbeitrag die Frage erörtern:
Was sind Sie eigentlich: Frosch oder Mensch?
Vorweg gesagt, ich verstehe mich und damit uns Menschen als eine (vielleicht vorübergehende) Naturerscheinung, erlebe mich nicht getrennt von der Welt, in der ich lebe. Manche Menschen nennen das esoterisch. Doch seit ich in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts Vera F. Birkenbihls Vortrag über exoterisches und esoterisches Weltbild hören durfte, hat dieser Begriff für mich eine sehr wertige Bedeutung bekommen. Und so bin ich stolz darauf, mich in Birkenbihls Begriffsdefinition einen Esoteriker zu nennen. Ich bin Teil eines größeren Ganzen, Teil der „mehr als menschlichen Gemeinschaft“. Diese Phrase des Tiefenpsychologen Bill Plotkin hat es mir angetan und Sie lesen es womöglich häufiger in meinen Beiträgen. Sehen Sie es mir nach, dass ich es Mantra artig widerhole. Es kann in der heutigen Zeit nicht oft genug gesagt werden und wer es lieber musikalisch mag, der findet unter nachfolgenden Links entsprechendes.
So hat alles seine Bedeutung; in Bezug zu Ihnen wie auch in Bezug zu mir. Ich persönlich habe eine starke Anziehung zu Naturvergleichen und in der urteilsfreien Beobachtung der mich umgebenden Natur erkenne ich immer auch Aspekte des Menschseins – und damit von mir. Und so klingt mir auch noch heute das „Quaaaaaak!“ aus Vera Birkenbihls Vortrag in meinem Ohr, als sie uns die obige provozierende Frage stellte.
Für den Frosch ist die Welt voller ESBES.
ESBES, ein sich bewegendes Etwas. Kleine ESBES kann man fressen, von großen ESBES wird man gefressen.
ESBES sind in der Welt des Frosches Dinge, die er mit seinen Sinnen wahrnehmen kann und wahrnehmen kann er nur die Dinge, welche sich bewegen. Sich sehr langsam bewegende Dinge, wie beispielsweise ein Storchenvogel auf Jagd, vermag er nicht zu erkennen. Der Storch scheint um dieses begrenzte Wahrnehmungsfeld zu wissen, bewegt sich entsprechend und erhöht seine Chancen auf Nahrung.
Doch die provozierende Frage lautete ja, ob ICH ein Frosch oder ein Mensch sei. Was hatte sie hiermit gemeint?
Nun, diese Fragstellung richtete sich auf meine (menschliche) Wahrnehmungsfähigkeit. Was nehme ich wahr und was nicht? Erkenne ich, was wirklich um mich herum vorgeht? Erkenne ich sie nur, wenn die Dinge sich stark bewegen, wenn augenscheinliche Bewegung/Dynamik, z.B. ein offener Konflikt, eine Krise, ein Change Prozess oder sonstige gut sichtbaren Symptome vorhanden sind? Dann lebe ich mit dem Bewusstsein eines Frosches.
Oder erkenne ich auch die kleinen Dinge wie unterschwellige Veränderungen in Stimmungen, Dynamiken, Einstellungen und Haltungen? Und wie gehe ich damit um? Still sitzen bleiben wie ein Frosch, indem ich diese Wahrnehmungen ignoriere, ausblende, d.h. sie vielleicht auch gar nicht wahrnehmen will und hoffe, dass es vorbei geht? Wenn das so ist, dann sage ich nur willkommen im Froschteich – Quaaak!
Das klingt Ihnen noch zu abstrakt? Hier ein praktisches Beispiel:
In der Zusammenarbeit mit einem mittelständischen Kunden war zu bemerken, dass zwischen der Ebene der Unternehmensgründer und Geschäftsführer sowie der nächsten Führungsebene nicht wahrhaft miteinander gesprochen wurde. Man bezog in Diskussionen Stellung, vertrat Positionen, argumentierte auf Sachebene, versuchte faktisch zu überzeugen. Letztendlich war aber für nahezu alle zu spüren, dass diese Formwahrung nur Makulatur darstellte und man „das eigentliche Thema“ verschwieg bzw. zurückhielt. Die tradierte Kultur dieser Organisation, in der vorwiegend Top-down gelebt wurde, machte eine wirksame Bottom-up Kommunikation eher schwierig. Der Geschäftsführer wollte nicht wirklich hinschauen, er wollte nicht „hören“, was da an seiner Tür klopfte, er wollte sich des Problems (in seiner Welt) entledigen. Sein sachlich richtig formulierter Satz dazu lautete „Ich will nur, dass der Laden läuft“.
Das Ansinnen durchaus verständlich und doch Froschteich – Quaaak!
Denn im Kern ging es hier um die unmittelbare menschliche Beziehung und Akzeptanz zwischen den Beteiligten. Darüber hätte man sprechen müssen, offen von Herz zu Herz, nicht von Kopf zu Kopf. Dann hätte man – mit freiem Geist – nach guten Lösungen für alle suchen können und auch Möglichkeiten jenseits der bestehenden (Organisations-)Wirklichkeit in Bezug auf die „emerging future“, die aufkommende Zukunft wie C.O. Scharmer es bezeichnet, finden können.
Doch niemand wollte an diese, bei allen Beteiligten mit vielen bewussten und unbewussten Ängsten besetzte Ebene heran, jeder fühlte sich nur als Opfer. Herz und Business geht nicht zusammen, so der unausgesprochene Glaubenssatz dieser Führungsgemeinschaft. Niemand, wirklich niemand wollte wahrhaft hinschauen, was diese Gesamtsituation mit ihm selbst, seinem Leben, seiner aktuellen Lebensphase, seinen Werten und Wünschen zu tun habe, geschweige denn sich damit offen und dadurch auch verletzlich bzw. angreifbar zu zeigen. So gab es im rund zweijährigen Verlauf dieses Prozesses zunehmend weniger Vertrauen ineinander und auch kaum mehr Hoffnung auf eine für alle zufriedenstellende Lösung. Es endete letztlich darin, dass diese Führungsmannschaft sich unharmonisch auflöste, jeder seiner Wege ging und eine menschlich zugewandte Begegnung zwischen den Beteiligten in der Zukunft mehr als fraglich erscheint.
Ich persönlich glaube, dass der sachlich-faktische Ausgang dieser Geschichte sogar richtig ist. Führungskräfte mit Ambitionen, welche der Kinderstube entwachsen sind, müssen größer werden dürfen – auch größer als der Gründer. Zumindest müssen sie eine Chance bekommen, sich darin zu versuchen. Doch das gelingt in einer Gründerorganisation, in welcher der Gründer selbst noch aktiver Part ist, meist nur schwer. Es sei denn – salopp gesagt – der Gründer ist selbst kein Frosch und geht bewusst mit dieser Herausforderung um, so wie ich es bei Götz Werner, dem Gründer des dm-Drogeriemarktes, in der Art der Weitergabe des Führungsstabes seiner Unternehmung glaube erkannt zu haben. Das hätte auch in dieser wirtschaftlich gesund dastehenden Organisation funktionieren können. Es war nicht wirklich gewollt.
Fatal an dieser beschriebenen Situation war, dass der Blick der Beteiligten immerzu nur nach Außen gerichtet war; der Fokus sich immer primär darauf richtete, was der andere falsch macht bzw. wie der andere falsch ist. Ebenso wenig hilfreich war, dass versucht wurde, das tiefliegende Beziehungsthema auf einer rein sachlichen Ebene zu bearbeiten. Erwartungsgemäß hatte dieses Bemühen wenig Erfolg, weil eben nicht am Kern gearbeitet wurde. Das wurde aber nicht von allen gewollt. Stattdessen wurden dann emotionsvoll wiederkehrende Streitgespräche über „Sachthemen“ geführt. Und so sind zum Schluss alle aus dieser Situation gegangen, ohne wirklich reifer geworden und an dieser Situation gewachsen zu sein. Das ist für mich die eigentliche Tragik dieser Szene, wie sie wahrscheinlich in vielen Organisationen vorkommt.
Daher schließe ich meinen heutigen Beitrag mit einem Apell:
Seien Sie kein Frosch, werden Sie Mensch!
Nehmen Sie ihre Wahrnehmungen ernst und gehen Sie bewusst damit um. Gehen Sie mit Menschen in wirklichen Kontakt, bemühen Sie sich um „charismatic communication“ wie es bei John Croft, einem australischen Organisationsentwickler, heißt. Sprechen Sie von Mensch zu Mensch und von Herz zu Herz. Vielleicht nutzen Sie dazu die Leitlinien des Council, einem bewährten Gesprächsformat für tiefen Austausch und bemühen Sie sich um echten Dialog.
- Sprich aus Deinem Herzen (nicht aus Deinem Kopf)
- Höre mit Deinem Herzen (nicht mit Deinem Verstand)
- Sprich Deine tiefste Wahrheit in diesem Moment
- Spricht aus, was Dir, dem Kreis und dem dient, was größer ist als alles andere.
Tauschen Sie sich über ihre Wahrnehmungen aus und schauen Sie hin, was die Situation von Ihnen persönlich JETZT in diesem Moment fordert. So gelangen Sie womöglich zu einem empathischen, ja vielleicht sogar wirklich generativen Dialog (so wie es Claus Otto Scharmer in seiner Theorie U beschreibt). Und nichts braucht es heute mehr, um den aktuellen Herausforderungen in einer komplexen Welt sinnvoll zu begegnen.
Haben Sie eine gute Zeit!
2 Kommentare
Vera Birkenbihl finde ich großartig und schade, dass sie so früh gehen musste.
Sehr spannender Blogbeitrag.
Ich würde mir wünschen, dass Menschen mehr im Jetzt sind und empathischer. Als Mutter einer Tochter mit Behinderung treffe ich oft auf eine Welt voller Menschen, die nur noch an sich und an mehr, mehr, mehr von was auch immer denken, das Jetzt haben sie vergessen und Empathie sowieso!
Hallo „Martina von Jolinas Welt“. Haben Sie vielen Dank für Ihre Rückmeldung. Letztendlich können wir immer nur uns selbst immer wieder in das JETZT bringen, können uns darin üben, empathischer zu werden. Wenn ich mich manchmal selbst verliere, dann gerate ich ebenso in die Tretmühle von mehr haben, mehr wollen, mehr mehr mehr … und es ist nie genug. Ich bin dann nicht empathisch; nicht einmal mir selbst gegenüber. Ein untrügliches Zeichen, dass ich nicht im Hier und Jetzt bin, sondern mich verstrickt habe. Und wo Sie Ihre Tochter angesprochen haben; manchmal frage ich mich, wer eigentlich der Mensch mit dem Handicap ist. Derjenige, dem wir die Behinderung zuschreiben, oder bin es nicht vielmehr ich? In diesem Sinne Ihnen eine gute Zeit.